Ein Gastbeitrag von Patrick
„Das ist doch nur der Stress der letzten Tage.“, „Das ist deine aktuelle Situation, mach Dir doch nicht so einen Kopf über alles.“, oder ganz klassisch: „Das ist doch nur das Wetter.“
All das sind typische Sätze, die mich – und wahrscheinlich viele andere junge Erwachsene – auf dem Weg zur Diagnose stets begleitet haben. Irgendwie ist es ja auch verständlich und kaum vorstellbar, dass ein junger, fitter Mensch im besten Alter eine schwere oder gar unheilbare Krankheit in sich trägt. Leider entspricht aber genau das auch teilweise der Realität – und so auch meiner Realität.
Nun aber alles auf Anfang: Nach meinem Abitur im Jahr 2015 hatte ich die beste Zeit meines Lebens und ich fühlte mich frei, war energiegeladen und neugierig. Neugierig, jede Tür, die mir der Schulabschluss und die Volljährigkeit geöffnet haben zu erkunden, das Leben zu leben. Getrieben von der Energie, beschloss ich, das Studium vorerst aufzuschieben und ein Jahr mit Arbeiten zu überbrücken, um anschließend reisen zu gehen und um die Welt zu sehen.
Schon ein Jahr später, im Sommer 2016, fühlte ich mich dann aber zunehmend antriebslos, entkräftet und erdrückt. Ich bemerkte in dieser Zeit zunehmend, wie meine Leichtigkeit und Unbeschwertheit immer mehr verschwand, bis schließlich jede Unternehmung, jeder Arbeitstag und jeder neue Morgen zur Überwindung wurde.
Wenig später entwickelte ich dann immer mehr das Gefühl, dass das Ganze mehr als das „Wetter“ oder die „Psyche“ war. Und als dann im Herbst 2016 einige physische Symptome, wie beispielsweise Taubheit in den Fingern und Füßen, Tinnitus, Sehstörungen oder TIAs dazu kamen, bestanden für mich keine Zweifel mehr, was mein Gefühl anging. Wie das aber so ist, hatte ich zu der Zeit noch einen Nebenjob, der im November zu Ende gehen sollte sowie einige andere Termine, sodass irgendwie auch klar war, dass ich mich vor November nicht um einen Termin beim Arzt bemühen würde. Außerdem waren da ja auch noch Freunde und Verwandte, die sich sicher waren, dass das Alles einfach nur Stresssymptome oder ein „Eisenmangel“ oder so etwas sind – etwas Banales halt.
Am Ende hatte ich meinen Arzttermin zur Vorstellung und Blutabnahme dann wirklich erst Mitte November und nach der ersten Einschätzung meines Hausarztes, hatten meine Verwandten Recht. Da ich zu dieser Zeit sehr sportlich war, kaum Übergewicht hatte, gesund aussah und zumindest äußerlich keinen geschwächten Eindruck machte, war sich mein Arzt sicher, dass da keine große Sache dahinterstecken würde. Einige Tage später, bei der Besprechung der Blutwerte, kamen dann aber die ersten Anzeichen zum Vorschein, die eine ernstere Sache vermuten ließen. Dank meines sehr guten Allgemeinzustandes und der Stereotype eines jungen Erwachsenen, war sich mein Arzt dennoch sicher, dass es einen Fehler im Labor gegeben haben muss, denn „so schlechte Blutwerte“ habe er in 40 Jahren noch nie gesehen und so wurde ich wieder mit der Gesamtsituation als Auslöser für meine Symptome vertröstet.
So vergingen wieder einige Tage, bis ich kurz vor Weihnachten 2016 erneut eine Verstärkung der Symptome bemerkt hatte, sodass ich zur Sicherheit noch einmal zur Blutabnahme im alten Jahr gehen wollte. Hier waren meine Blutwerte dann noch schlechter, sodass mein Hausarzt mich diesmal ernster nahm und einsah, dass an meiner Schilderung der Situation und meiner Überzeugung, dass die Psyche hierbei keine Rolle spiele, vielleicht doch mehr dran war, als er zunächst annahm. Also überwies er mich daraufhin zum Onkologen, was bei mir natürlich viel Verunsicherung und Angst auslöste. Trotzdem war ich fest entschlossen, schnell herauszufinden, was mir fehlte, was mit mir ist. Mittlerweile gab es nämlich Tage, an denen ich mich selbst, mit meiner neuen Gereiztheit, Verwirrung und meinen neuen Gedanken, nicht erkannte.
Am Freitag, den 13. Januar 2017 war es dann soweit und ich hatte meinen Termin beim Onkologen – mit dabei, meine Mama. So erwachsen und frei sich das frische 21. Lebensjahr anfühlte, so klein und hilflos fühlte ich mich an diesem Tag. Nach einem einstündigen Gespräch, einem ausgiebigen Ultraschall, einem EKG und einem Aderlass, äußerte mein Onkologe dann vorsichtig den Verdacht der Polycythaemia Vera und er machte mir ausdrücklich klar, dass meine Blutwerte jederzeit zu einer Thrombose, einem Herz- oder Hirninfarkt führen könnten. Tausend Gedanken und Gefühle haben meinen ganzen Körper geflutet, denn es wurde auf einmal viel zu schnell ernst. Gleichzeitig war ich völlig apathisch, denn ich konnte die Diagnose und alles was damit verbunden war in dem Moment kaum begreifen. Immer wieder schwirrten mir an diesem Tag und in dieser Woche die gleichen Worte durch den Kopf: Polycythaemia Vera.
Bei der Polycythaemia Vera (PV) handelt es sich um eine Blutkrebserkrankung, die den myeloproliferativen Neoplasien und damit den seltenen Krankheiten zugeordnet werden kann. Faktisch bedeutet eine seltene Erkrankung, dass weniger als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind und tatsächlich schätzt man bei der PV eine Inzidenz von teilweise nur 1:100.000. Zum Zeitpunkt der Diagnose haben über 95% der Betroffenen das 60. Lebensjahr bereits überschritten, sodass junge Erwachsene mit PV also sehr selten sind. Klinisch ist die klassische PV in der Regel durch eine Genmutation charakterisiert, die eine chronische und progressive Vermehrung der Blutkörperchen zur Folge hat – vor allem die der roten Blutkörperchen. Durch den vermehrten Anteil an roten Blutkörperchen wird besonders die Fließeigenschaft (Viskosität) des Blutes nachteilig beeinflusst, sodass die PV bereits nach 1,5 Jahren ohne Behandlung tödliche Folgen mit sich bringen kann, wie zum Beispiel einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Behandelt kann man die PV deutlich besser in den Griff bekommen und die Lebenserwartung eines Patienten deutlich erhöhen. Dennoch zählt die PV etliche Symptome, wie beispielsweise Kopfweh, Juckreiz, Taubheit, Sehstörungen, Tinnitus, chronische Müdigkeit und Antriebslosigkeit, Bauch- und Knochenschmerzen und vieles mehr. Zusätzlich kann es auch bei der behandelten PV zu ernsteren, thrombotischen Ereignissen und spontanen Blutungen kommen. Eine vollständige Heilung kann bisher leider noch durch keine Therapie erreicht werden, man versucht allerdings mittels Aderlässen, Blutverdünnern und anderen Medikamenten die Lebensqualität eines Patienten möglichst lange zu erhalten und so, das Fortschreiten der Krankheit hinaus zu zögern.
Seit dem 13. Januar 2017 hat sich also einiges in meinem Leben verändert und Arztbesuche stehen beinahe wöchentlich auf meiner Agenda. Zu Beginn durchläuft jeder PV-Patient eine Knochenmarkspunktion zur Sicherung der Diagnose anhand der Genmutation, dann folgt eine individuelle Behandlung. Da ich eine organisierte Blutung am Magen hatte, standen für mich im Nachgang noch einige CT- und MRT-Untersuchungen, Magenspiegelungen und -biopsien, sowie eine Laparoskopie zur Entfernung des Hämatoms auf dem Programm.
Seitdem steht die Behandlung der PV bei allen meinem Vorhaben im Mittelpunkt, um mir ein möglichst langes und vor allem schönes Leben zu ermöglichen. Neben Aderlässen in Abständen von mehrmals die Woche bis alle sechs Wochen, der täglichen Einnahme von Blutverdünnern, soll vor allem die Zugabe von hochdosierten Interferonen (Hormonen) alle zwei Wochen die Symptomatik, wie Knochenschmerzen, Müdigkeit und Antriebslosigkeit verringern. Außerdem gibt es bei der PV auch eine Chemotherapie, die zur Linderung der Symptome führen kann. Diese verabreicht man aufgrund etlicher Nebenwirkungen allerdings eher ungern, gerade bei jungen Erwachsenen. Da der Medizin hier also ihre Grenzen gesetzt sind und es darüber hinaus keine weiteren Therapiemittel zur Behandlung von PV gibt, ist es besonders wichtig, auch auf seltene Krankheiten aufmerksam zu machen und die Erforschung dieser zu fördern, damit gerade junge Betroffene zuversichtlich in eine Zukunft blicken können.
Auf meinem persönlichen Weg hat mir die Aussprache mit Ärzten, Freunden und Verwandten bisher sehr viel dabei geholfen zu verstehen und zu verarbeiten, was PV für mich bedeutet. Auch wenn man sich oft antriebslos fühlt und es sich anfühlt als kämpfe man den tränenreichen Kampf gegen eine unheilbare Krankheit alleine, so gibt es immer wieder jemanden, der denselben Kampf führt. Jemanden, der dich versteht und der dir Sicherheit und Bestärkung gibt. Es hilft so viel, auszudrücken, wie es einem geht und was man empfindet und es ist dabei völlig okay, dass man Dinge anders wahrnimmt, als seine Mitmenschen. Es gibt so oft Tage, an denen mir die leichteste Aufgabe schwerfällt, an denen ich Zweifel daran habe, ob das wirklich meine Realität sein kann, weil unsere Gesellschaft die Symptome von jungen Erwachsenen relativiert und weil einfach alles „Scheiße“ ist. Aber man lernt, dass es okay ist, so zu empfinden und man lernt dazu zu stehen. Man lernt zu sagen: „Das bin ich, so wie ich bin und für mich geht es bis hierhin und nicht weiter“.
Für mich war es besonders wichtig, mich auf diesen Lernprozess einzulassen und auf mich zu hören. Was sagt einem sein Körper? Welche Signale sendet er? Was hat sich verändert? Hör auf dich und das was dein Körper sagt und geh lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig zum Arzt. Früherkennung ist so wichtig, auch wenn ich weiß, wie schwer es ist, den Spagat zwischen gesunder Fürsorge und übertriebener Angst zu meistern. Für mich war dieser Prozess auch sehr, sehr langwierig und schwer, denn man ist so jung und überfordert und steht auf einmal vor so vielen Themen und Entscheidungen, die einen jungen Erwachsenen nicht beschäftigen sollten, wie beispielsweise die Frage nach der Gleichstellung im Beruf, der Zeugungsfähigkeit nach der Behandlung, Patientenverfügungen für Notfälle und vielem mehr.
Es ist hier trotz allem besonders wichtig proaktiv zu sein, auf Ärzte zu zugehen und auch neue Ärzte hinzuzuziehen. Wir haben nur diese eine Chance hier auf Erden und diese eine Gesundheit, deswegen sollte keiner – egal, in welchem Alter – auch nur eine Sekunde daran zögern, sich zu äußern und Ärzte auch zu fordern. Für mich persönlich war es auch deshalb ein langer Weg, da nicht viele Ärzte mit der PV vertraut sind, weshalb ich mich erst seit circa einem halben Jahr und nach langer Suche mit vielen Bemühungen, gut in einer Uniklinik aufgehoben fühle. Auch wenn die Ärzte mich dort mit der neuen Hormon-Therapie erst einmal ins „Tal der Tränen und Stimmungsschwankungen“ entlassen und mir noch einmal ein ganz anderes Maß an Ernsthaftigkeit der Krankheit vermittelt haben, hat mir dieses ehrliche Gespräch auf Augenhöhe sehr geholfen, nach vorn zu schauen.
So hilft mir auf meiner Reise durch das „Tal der Tränen“ vor allem auch das Innehalten und Bewusstmachen, was neben all dem, was mir nicht mehr möglich ist und sein wird, immer noch möglich ist. Tatsächlich war ich in den letzten 5 Jahren trotz der Diagnose Krebs und regelmäßiger Therapie in der Lage, meinen Bachelor zu absolvieren. Ich war auf einer Backpack-Tour durch Deutschland, habe 6 Monate in Paris und 6 Monate in Luxembourg gelebt. Ich konnte Konzerte besuchen und bin zum ersten Mal geflogen. Aktuell mache ich eine Ausbildung zum Yoga-Lehrer und habe parallel mit meinem Master angefangen. Außerdem hat sich meine Sichtweise auf das Leben völlig verändert und die Beziehungen zu meinen engsten Freunden und vor allem zu meiner Familie haben sich viel mehr gefestigt. Wenn man schließlich das Alles in der Summe betrachtet, ist es es auf jeden Fall wert – so schwer es einem in einigen Momenten auch fällt – jeden Tag aufs Neue zu kämpfen, den Kopf nicht hängen zu lassen und zu hoffen – auf die Medizin, auf die Gesellschaft und auf ein Wunder.