Ein Gastbeitrag von Bastian
Als mich die Diagnose Hodenkrebs im November 2020 traf, war ich gerade im üblichen Unverwundbarkeitsmodus junger Männer Anfang dreißig: Karriere, Sixpack, Drinks.
Der Tumor in meinem Bauchraum war damals in etwa so groß wie zwei Grapefruits und wurde glücklicherweise noch rechtzeitig entdeckt. Vier Zyklen BEP und eine anschließende OP mit großem Bauchschnitt haben die vermeintlich wichtigen Dinge im Leben ziemlich rabiat verändert.
Einfach mal in der Sonne vor dem Haus sitzen und nichts tun. Das war auf einmal kein „Unnützes Rumsitzen“ mehr, sondern für mehrere Wochen nach der OP das Highlight des Tages. Wieder Kaffee trinken. Genug Konzentration zum Lesen haben. Auf einmal ist man mit den kleinen Dingen doch mehr als zufrieden.
Irgendwann geht es dann wieder aufwärts. Aus hundert Meter gehen werden tausend Meter, man schaut mal wieder bei den Kolleginnen und Kollegen vorbei, man hat wieder Ideen. Back on Track. So wirkt es zumindest.
Heute bin ich sportlich wieder aktiv und vermutlich fitter als viele meiner Leidensgenossen. Ich trainiere auch wieder ähnlich oft wie vor meiner Erkrankung. Ich konnte mit überschaubarem Aufwand zwei, drei ganz gute Abschlüsse in der Firma erzielen und habe mich im Anschluss daran auch hin und wieder mal betrunken. „Schön, dass du wieder ganz der Alte bist!“
Ganz der Alte? Mitnichten. Man ist eben nicht der Alte, sondern bei genauerem Hinsehen eben doch ganz anders. Nur sieht außerhalb des engsten Freundes- und Familienkreises eigentlich kaum jemand genauer hin.
Körperlich fit sein, klar, gerne! Aber eben nicht mehr wegen irgendwelchen Äußerlichkeiten, sondern um im Falle eines Rückfalls möglichst gute Chancen zu haben. Wieder erfolgreich im Job zu sein, auch super. Weil einen die Kolleg:innen dann in Ruhe lassen. Einmal wieder richtig auf den Putz hauen! Weil ja sonst nichts passiert.
Während enge Freunde und Familie froh sind, dass sich die Lage beruhigt hat und alles wieder seine normalen Bahnen geht, läuft der erweiterte Kreis mit Kolleg:innen und sonstigen Bekannten sowieso schon die ganze Zeit einfach weiter wie bisher.
Und man selbst steht da mit seinen umgekrempelten Prioritäten und kann mit den meisten Themen auf einmal nicht mehr viel anfangen. Ich für meinen Teil will jetzt mehr. Mehr Sehen, mehr Spüren, mehr Leben. Die Definition von Glück liegt jetzt irgendwo weit außerhalb der „Kind, Reihenhaus, Kombi“-Routine. Sehr weit.
„Jetzt wo du wieder fit bist, kannst du ja das mit dem Haus angehen.“ Ja, könnte ich. Ich könnte aber auch endlich einmal in den Kaukasus fahren, wo ich schon immer hinwollte. Oder doch noch einen Tanzkurs machen. Endlich das Holzmöbel fertigbauen, das im Schuppen liegt. Oder einfach auf der Bank vor dem Haus in der Sonne sitzen. Das alles macht im Nachkrebskopf ähnlich glücklich wie das doofe Haus.
Das Verständnis hierfür ist allerdings nicht sonderlich groß.
Die diametralen Wertvorstellungen führen zu größer werdenden Gräben und man steht oft recht alleine da mit seinen Ansichten. Die Kreise außerhalb des vorgezeichneten Lebens werden kleiner, die Themen weniger.
Dafür werden die, die bleiben auch enger, unzertrennlicher. Und die die immer da, aber lange im Alltag verschwunden waren, werden auf einmal wieder sichtbar, anrufbar, besuchbar.
Und das ist schön! Da muss man nämlich nicht der Alte sein, muss nicht im Superheldenmodus sein, darf zugeben, dass man Angst hat, darf kein Haus wollen, darf einfach in der Sonne sitzen.