Medizinische Versorgung
Benachteiligung von Männern bei der Finanzierung von Perücken unter Chemotherapie durch gesetzliche Krankenkassen.
Zitat aus einer Seite des AOK Bundesverbandes (https://www.aok-bv.de/presse/medienservice/ratgeber/index_23061.html, abgerufen 24. August 2023): Welche Möglichkeiten es gibt, mit dem drohenden Haarausfall (unter Chemotherapie) umzugehen, darüber sollte der behandelnde Arzt oder der Ärztin die Betroffenen aufklären. Gefragt sind individuelle Lösungen. Um den vorübergehend kahlen Kopf zu bedecken, eignen sich Tücher oder Mützen. Eine weitere Möglichkeit sind Perücken aus Kunst- oder Echthaar, denn für viele Erkrankte ist es wichtig, dass Außenstehende die Krankheit nicht sofort erkennen…Wer sich für eine Perücke entscheidet, kann sich von der Ärztin oder dem Arzt, der die Chemotherapie verabreicht, ein Rezept dafür ausstellen lassen.
Die Gesetzlichen Krankenkassen übernehmen dann die Kosten für den Haarersatz. Versicherte müssen lediglich die gesetzlich vorgeschriebene Zuzahlung übernehmen. Im Regelfall ersetzt die Krankenkasse eine Kunsthaarperücke, die Kosten für eine Echthaarperücke werden nur in Ausnahmefällen übernommen, etwa bei einer Allergie…Bei Männern dürfen die Krankenkassen nur in Ausnahmefällen die Versorgung mit einer Perücke bezahlen.
Kerstin Wehmhoff, Inhaberin eines Perücken- und Zweithaarstudios in Bad Zwischenahn fragt sich in der Nordwest-Zeitung vom 10.11.2022, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. „Es sind nicht alle Männer gleich“, sagt sie. Für viele sei es ein Problem, die Krankheit mit dem plötzlichen Haarverlust offen zur Schau zu stellen: „Trotzdem werden diese Hilfsmittel bei Männern fast nie genehmigt.“ Maximal in einem von zehn Fällen würden Krankenkassen für Toupets zahlen – bei Frauen hingegen ausnahmslos.
Auf die Anfrage der Redaktion der Nordwest-Zeitung haben die Krankenkassen Barmer und AOK reagiert – einige aber auch nicht. So schreibt die Barmer: „Der Haarausfall bei Männern stellt allein keine wesentliche Beeinträchtigung der äußeren Erscheinung dar – und es ergibt sich damit keine regelhafte medizinische Versorgungsnotwendigkeit. Das fehlende Haupthaar beeinträchtigt die Körperfunktionen des Mannes nicht und wirkt (öffentlich), anders als bei der Frau, auch nicht entstellend. Die Kaschierung des Haarverlustes gilt bei Männern daher grundsätzlich als optische Maßnahme und fällt in die Eigenverantwortung des Versicherten.“ Die AOK beruft sich auf die geltende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach ein Unterschied nach dem Geschlecht vorgesehen sei. Bei Männern werde Haarverlust als „nicht unüblich“ eingestuft und gesellschaftlich nicht als entstellend angesehen.
Sehen wir uns das Urteil des Bundessozialgerichts näher an, auf das sich die AOK bezieht. Schon eine oberflächliche Durchsicht ergibt, dass der dargestellte Fall mit dem Haarverlust nach Chemotherapie überhaupt nichts zu tun hat. Verhandelt wurde vor dem Bundessozialgericht der Fall eines Mannes mit totalem Haarausfall vom Typ der Alopecia Areata. Die Krankenkasse hatte ihn wiederholt, zuletzt im Dezember 2006 mit Perücken versorgt. Einen erneuten Antrag vom November 2011 lehnte sie jedoch ab. Damals war der Kläger 73 Jahre alt. Das Bundessozialgericht gab der Krankenkasse recht.
Sowohl die Erkrankung dieses Patienten als auch seine Lebenssituation unterscheidet sich grundlegend von der eines Mannes unter Chemotherapie.
Wir halten es für eine ungerechtfertigte Benachteiligung ,wenn die Krankenkassen unter Chemotherapie regelhaft für die Kosten einer Perücke für Frauen aufkommen, für Männer jedoch nicht . Sicherlich ist der Verlust der Haare unter Chemotherapie für eine Frau ein einschneidendes und belastendes Ereignis. Aber welches Menschenbild steht dahinter, wenn von vornherein angenommen wird, dass dies bei Männern nicht der Fall ist? Wie bei den Frauen können auch bei Männern die Ansprüche an das äußere Erscheinungsbild und eine entsprechende Belastung bei einer Veränderung desselben individuell sehr unterschiedlich sein.
Finanzierung von Hodenprothesen nach Operation eines Hoden Karzinoms
Betroffene berichten von Problemen, nach der Entfernung ihrer Hoden wegen Hodenkarzinom Prothesen durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert zu bekommen. In einem Fall stellte sich die Krankenkasse auf den Standpunkt, dies könne nur geschehen, wenn die Prothesen unmittelbar nach der Entfernung der Hoden eingesetzt würden. Zu diesen Fragen wurde vor dem Sozialgericht München ein wichtiges Urteil gefällt. Zentraler Punkt der Entscheidung ist, dass der Betroffene einen Anspruch auf die Wiederherstellung der körperlichen Integrität nach dem operativen Eingriff hat. Hieraus begründet sich der Anspruch auf die Implantation der Hodenprothesen. Allerdings bleiben durch das Urteil auch Fragen offen. So hatte der Kläger seinen Anspruch damit begründet, dass für ihn durch den Verlust der Hoden eine psychische Belastung entsteht. Das Gericht betonte jedoch in seiner Entscheidung, dass wieder die Veränderung des körperlichen Erscheinungsbildes den Anspruch begründet noch die dadurch hervorgerufene psychische Belastung. Erstaunlicherweise argumentiert das Gericht, dass auch das Fehlen einer weiblichen Brust das körperliche Erscheinungsbild nicht so verändert, dass sich hieraus der Anspruch auf eine Wiederherstellung der Brust herleiten würde.
In der täglichen Praxis der gesetzlichen Krankenkassen ist die Bezahlung der Rekonstruktion der weiblichen Brust nach Brustkrebsoperation jedoch völlig unumstritten.
In der Praxis sehen wir hier eine ungerechtfertigte Benachteiligung junger Männer mit Hodenkrebs. Nicht für Jeden mag es unerheblich sein, wenn Hoden nach der Operation fehlen. Unserer Meinung nach sind hier auch der Wandel der Zeit in der Anschauung des Körperbildes und individuelle Anschauungen zu berücksichtigen.
Eizellspende und Samenspende
Viele junge Frauen und Männer hatten in der Vergangenheit aufgrund der fehlenden Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen oder auch aufgrund fehlender medizinischer Möglichkeiten nicht die Gelegenheit der Kryokonservierung von Eizellen oder von Eierstockgewebe vor ihrer Krebstherapie.
Ist der Mann auf diese Art und Weise unfruchtbar geworden, steht den jungen Paaren die Möglichkeit offen, ein Kind mittels Samenspende zu zeugen. Die Samenspende ist in Deutschland erlaubt und unproblematisch.
Ist jedoch die Frau im Rahmen einer Krebserkrankung oder ihrer Behandlung unfruchtbar geworden, steht ihr die Möglichkeit nicht offen, eine Eizellspende zu erhalten. Das Embryonenschutzgesetz verbietet dies in Deutschland. Außer Deutschland ist die Schweiz das einzige europäische Land, in dem Eizellspenden untersagt sind.
Natürlich muss anerkannt werden, dass eine Eizellspende aufgrund der notwendigen hormonellen Simulation und des – allerdings – kleinen Eingriffs einer Punktion durch die Scheide mit Unterschieden gegenüber einer Samenspende zu betrachten ist. Auf der anderen Seite hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit, hier Regeln zu schaffen, die eine unangemessene Belastung freiwilliger Eizellspenderinnen verhindern könnte. Auch stünde die Möglichkeit offen, auch Eizellen einzusetzen, die im Rahmen künstlicher Befruchtungen gewonnen wurden und nicht mehr benötigt werden.
Wir sehen hier eine zurzeit noch bestehende Benachteiligung junger Frauen mit Kinderwunsch und Unfruchtbarkeit nach Krebs. Die Bundesregierung hat 2023 eine Kommission eingesetzt, die bis Anfang 2024 sich auch diesem Thema widmen wird und hoffentlich Vorschläge für eine Veränderung machen wird. Leider sind in der Kommission die Betroffenen nicht vertreten.
Stand: 25.8.2023