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Recht auf Vergessenwerden

Geheilt – und dennoch benachteiligt.

Viele junge Menschen, die eine Krebserkrankung überstanden haben, gelten mit Eintritt der sogenannten Heilungsbewährung – einer Nachsorgezeit von in der Regel fünf Jahren, in der es zu keinem Rückfall der Erkrankung kam –als geheilt. Trotzdem werden sie im Alltag weiterhin wie Risikopatient:innen behandelt: So werden zum Beispiel Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherungen abgelehnt oder unangemessen und mit pauschal hohen Prämien angesetzt, die Aufnahme von Krediten behindert, Verbeamtungen verwehrt und selbst Adoptionswünsche bleiben unerfüllt. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sie nach einem oft beschwerlichen Weg bis zur Heilung ihr Leben nicht auf Augenhöhe mit Gleichaltrigen fortsetzen können. Nach dem medizinischen Stigma der Krebserkrankung folgt somit häufig eine soziale Stigmatisierung.

Dieses Problem betrifft viele: Jährlich erkranken in Deutschland etwa 16.500 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 39 Jahren sowie rund 2.100 Kinder an Krebs. Dank medizinischer Fortschritte werden mehr als 80 Prozent von ihnen geheilt. Doch Heilung allein reicht nicht aus – es geht auch um die faire Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben.

Hier setzt das Konzept des „Rechts auf Vergessenwerden“ an: Es soll sicherstellen, dass eine überstandene Krebserkrankung nach einer angemessenen Frist nicht länger zu Benachteiligungen führt – weder bei Versicherungen und Krediten, noch im Beruf oder bei Adoptionen.

Das „Recht auf Vergessenwerden“ (Right to be forgotten) beschreibt den Anspruch, dass insbesondere personenbezogene Daten über die Diagnose onkologischer Erkrankungen nach einer angemessenen Frist, in der es zu keinem erneuten Auftreten der Erkrankung kam, nicht länger gegen die Betroffenen verwendet werden dürfen.

Mit der EU-Verbraucherkreditrichtlinie 2023 wurde erstmals eine gesetzliche Bestimmung geschaffen, die die Mitgliedsstaaten verpflichtet, nach Ablauf einer festgelegten Frist personenbezogene Gesundheitsdaten nicht für die Zwecke einer Versicherungspolice im Zusammenhang mit einem Verbraucherkredit zu verwenden. Die Mitgliedsstaaten haben bis November 2025 Zeit, das in nationales Recht umzusetzen.
Für Betroffene bedeutet dies eine Verbesserung ihrer Chancen im Alltag: Wer seine Erkrankung überwunden hat, soll nach einigen Jahren die gleichen Möglichkeiten wie Menschen ohne Krebserkrankung haben.

In Deutschland ist die Umsetzung bislang jedoch unzureichend. Junge Krebsüberlebende müssen noch immer Benachteiligungen hinnehmen. Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht vor, dass Daten über eine Krebsdiagnose nach maximal 15 Jahren nicht mehr für Versicherungsverträge bei Kreditgeschäften verwendet werden dürfen – eine Regelung, die unserer Ansicht nach nicht ausreicht und junge Menschen am Neubeginn nach einer überstandenen Krebserkrankung ausbremst.

Mehrere EU-Mitgliedsstaaten haben ein umfassenderes, das heißt über die EU-Verbraucherkreditlinie hinausgehendes „Recht auf Vergessenwerden“ auf nationaler Ebene verankert: Belgien, Frankreich, Italien, Niederlande, Portugal, Rumänien, Spanien Zypern und Slowenien.

Darüber hinaus haben Dänemark, Griechenland, Irland, Luxemburg und Tschechien sogenannte Codes of Conduct (CoCs) eingeführt. (Stand: Dezember 2024) Diese freiwilligen Selbstverpflichtungen der Versicherungswirtschaft sind rechtlich nicht bindend, zeigen aber, dass das Thema europaweit ernst genommen wird.
Der internationale Vergleich macht deutlich: Deutschland steht unter Zugzwang. Junge Krebsüberlebende hierzulande dürfen nicht länger schlechter gestellt sein als Gleichaltrige in Nachbarländern.

Die Fakten sind eindeutig, doch besonders eindringlich sind die Stimmen derer, die täglich mit Diskriminierungen leben müssen:


„Mein Mann und ich wollten ein Haus bauen. Zur Absicherung des Kredits sollte ich eine Risikolebensversicherung abschließen. Aufgrund meiner mittlerweile fast 12 Jahre zurückliegenden Leukämieerkrankung sagte man mir, dass der Abschluss unmöglich sei.“

Miriam, Erstdiagnose 2010, zum Zeitpunkt der Diagnose Akute Myeloische Leukämie 26 Jahre alt

„Obwohl ich mittlerweile promoviert bin, sehr viel Sport treibe und ein aktives und uneingeschränktes Leben führe, habe ich große Schwierigkeiten, meine Arbeitskraft durch eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzusichern. Tatsächlich habe ich bereits viele Versuche über Versicherungsvertreter unternommen, anonyme Voranfragen unter Angabe meiner Krebsdiagnose für eine BU zu stellen. Bisher wurden alle abgelehnt.“

Stefan, Erstdiagnose 2004, zum Zeitpunkt der Diagnose Rhabdomyosarkom 11 Jahre alt

 

„Auf der einen Seite hängt Betroffenen die Krebserkrankung noch über die 5 Jahre der Heilbewährungszeit hinaus an, und man hat Nachteile bei dem Abschluss von Versicherungen oder auf der Arbeit, auf der anderen Seite laufen die Schwerbehindertenausweise spätestens 5 Jahre nach der Krebserkrankung ab oder werden noch früher überprüft und heruntergestuft. Diese Uneinheitlichkeit darüber, wann man wieder als ‚gesund‘ oder noch als ‚krank‘ bzw. ‚gefährdet‘ gilt, ist total paradox.“

Miriam, Erstdiagnose 2014, zum Zeitpunkt der Diagnose Brustkrebs 30 Jahre alt

 

„Ich wurde glücklicherweise verbeamtet, wollte dann aber natürlich auch in die private Krankenversicherung eintreten. Im Gespräch wurde mir gesagt, dass ich mich, wenn dann schon reinklagen müsste und ich aufgrund meiner sieben Jahre zurückliegenden Erkrankung hohe Risikozuschläge zahlen müsste, was die PKV für mich unerschwinglich gemacht hätte. Wörtlich sagte man mir: Niemand versichert ein brennendes Haus!“

Kaylie, Erstdiagnose 2014, zum Zeitpunkt der Diagnose Hodgkin-Lymphom 20 Jahre alt

 

Diese Erfahrungsberichte zeigen: Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um ein strukturelles Problem.

 

Die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs setzt sich bereits seit 2022 verstärkt und gezielt dafür ein, Benachteiligungen von Krebsüberlebenden zu beenden und politische Lösungen voranzutreiben. Ihre Aktivitäten umfassen Aufklärung, politische Vernetzung, Forschung und Sensibilisierung.

Wichtige Aktivitäten:

  • Juli 2025:
    • Gemeinsame Stellungnahme mit der DGHO e.V. zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2023/2225 über Verbraucherkreditverträge
  • September 2024:
    • Gemeinsame Pressekonferenz mit der DGHO e.V. zur Vorstellung des 22. Bandes der gesundheitspolitischen Schriftenreihe „Recht auf Vergessenwerden – Keine Benachteiligungen von jungen Erwachsenen mit Krebs mehr zulassen“. (Download der Schriftenreihe hier)
  • August 2024:
    • Treffen mit dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) – Einbringung eines konkreten Vorschlags zur Definition des Startpunkts des Rechts auf Vergessenwerden: Orientierung an der Heilungsbewährungsfrist von fünf Jahren gemäß Versorgungsmedizin-Verordnung.
  • Juni 2024:
    • Satellitensymposium beim Hauptstadtkongress Berlin in Zusammenarbeit mit der DGHO e.V.: „Right to be forgotten – Recht auf Vergessenwerden | Benachteiligungen von Krebspatient:innen jetzt auch in Deutschland stoppen!“ – Vorstellung des 22. Bandes der gesundheitspolitischen Schriftenreihe der DGHO.
  • Juni bis November 2023:
    • Online-Umfrage „Benachteiligungen nach Krebs“ – Sammlung von über 250 dokumentierten Diskriminierungserfahrungen junger Erwachsener.
  • Mai 2023:
    • Workshop „Benachteiligungen nach Krebs“ – Digitaler Austausch mit jungen Betroffenen, um konkrete Erfahrungen im Alltag und Handlungsempfehlungen zu sammeln.
  • November 2018:
    • Beteiligung an der Veröffentlichung eines White Paper mit Youth Cancer Europe

Wir haben das Thema bereits gemeinsam mit Betroffenen in Gesprächen mit verschiedenen politischen Entscheidungsträger:innen und Institutionen erörtert und stehen weiterhin im Austausch. Dazu zählen unter anderem: Stefan Schwartze, MdB (SPD), Dr. Ottilie Klein, MdB (CDU), Tiemo Wölken, MdEP (SPD), Katrin Helling-Plahr, MdB (FDP) sowie Jens Teutrine, MdB (FDP).

Darüber hinaus pflegen wir einen engen Austausch mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Dr. Françoise Meunier, Gründerin der Initiative Ending Discrimination Against Cancer Survivors, die sich europaweit für ein Recht auf Vergessenwerden einsetzt, sowie mit dem Verein Survivor Deutschland.

(1) Umsetzung eines umfassenden Rechts auf Vergessenwerden in Deutschland:

Deutschland muss zügig ein verbindliches Recht auf Vergessenwerden in nationales Recht umsetzen. Wir empfehlen eine Frist von fünf Jahren, entsprechend der Heilungsbewährung, nach deren Eintreten frühere Krebserkrankungen nicht mehr zu Diskriminierungen führen dürfen.

 

(2) Abdeckung aller relevanten Lebensbereiche:

Das Recht soll einheitliche gesetzliche Regelungen umfassen, die insbesondere Versicherungen und Kredite abdecken, und außerdem die Diskriminierung von Betroffenen beenden, z. B.:

  • Wunscheltern bei Adoptionsbemühungen, wenn Partner:innen zuvor an Krebs erkrankt waren.
  • Jungen Erwachsenen, die nach überstandener Krebserkrankung eine Verbeamtung anstreben.

(3) Sensibilisierung und Stigmatisierungsabbau:

  • Schaffung eines Problembewusstseins für die spezifischen Bedürfnisse junger Krebsüberlebender.
  • Abschaffung der Stigmatisierung, der sie trotz geheilter Erkrankung weiterhin ausgesetzt sind.
  • Sensibilisierung von Politik, Versicherungswirtschaft und Öffentlichkeit.

 

Die Botschaft ist klar: Junge Krebsüberlebende dürfen nach überstandener Krankheit nicht lebenslang als „Risikopatient:innen“ behandelt werden. Diese Stigmatisierung ist in keiner Weise akzeptabel. Das Thema gehört auf die politische und juristische Agenda – mit dem Ziel einer Gesetzgebungsinitiative zur Umsetzung eines umfänglichen Rechts auf Vergessenwerden auch in Deutschland.

Aktuelle Beiträge zu dem Thema in der Presse:

o NDR Panorama 3 – Krebs, geheilt: Lebenslang benachteiligt? (September 2025)

o Im Fokus Onkologie – Recht auf Vergessenwerden für Krebsüberlebende (September 2025)

o ARD – Vom Krebs geheilt und dann diskriminiert (September 2025)

o Medical Tribune – Krebsdiskriminierung: Überlebende sollen beim Zugang zu Krediten schneller entlastet werden (August 2025)

o BILD der Frau – Krebs überlebt – aber für immer benachteiligt (April 2025)

o Deutsches Ärzteblatt – Widerstand gegen Diskriminierung von jungen Krebsüberlebenden (September 2025)

o rbb GESUND – Krebs überstanden Junge Menschen werden benachteiligt – Recht auf Vergessen nach Krebs (Juni 2024)