Ein Gastbeitrag von Luise
Ich hatte mit 20 akute lymphatische Leukämie und ein Wahnsinnsglück, denn ich habe überlebt, sogar ohne Spende!
Allerdings liegt man mit meiner Diagnose aufgrund des Standard-Behandlungsprotokolls 12 Monate stationär im Krankenhaus und bekommt neben 9 Chemos auch 12 Hirnbestrahlungen zur Prävention maligner Tumore.
Ich hatte gerade Abitur gemacht und wollte ein geisteswissenschaftliches Studium aufnehmen, doch nach meinem Jahr Therapie konnte niemand sagen, wie leistungsfähig mein Hirn noch ist. Ich hatte eine riesen Panik, dass mein gesamter Zukunftsplan, Berufsschullehrerin für Erzieherinnen zu werden, nun zerplatzen könnte. Dabei schien er mir alternativlos. Also begann ich schon ein dreiviertel Jahr nach Behandlungsende mit dem Studium, weil ich allen beweisen wollte, dass ich funktioniere, dass ich gesund und nicht krank bin.
Ich verdrängte den Tod einer ebenfalls jungen Mitpatientin, die im Krankenhaus meine Freundin wurde und studierte so ehrgeizig und verbissen, bis ich während meiner Masterarbeit Flashbacks bekam und von einem Burnout überrollt wurde. Ich bekam Panikattacken, mein Kurzzeitgedächtnis setzte teilweise aus und ich brach z.B. morgens auf dem Weg zur Bahn unvermittelt in Tränen aus. Dann wurde neben einer Anpassungsstörung auch eine Schilddrüsenunterfunktion diagnostiziert, die eventuell auch durch die Bestrahlung entstanden sein könnte. Ich suchte mir eine Psychotherapeutin und riskierte mit der Therapie und der Aufarbeitung meiner Krebsgeschichte meine Verbeamtung, ich verschwieg auch bei der Prüfung meines gesundheitlichen Zustandes nicht meine Leukämiediagnose, obwohl mir das tatsächlich andere Personen aus dem System geraten haben. Ich bin aber viel zu stolz auf mein Überleben und meine Geschichte, um darüber zu schweigen! Meine Freundin ist gestorben, ich entkam nur knapp dem Tod, habe immer für meine Zukunft gekämpft, und deshalb darf ich keine Staatsdienerin sein? Ist es ein Makel, Krebs überlebt zu haben? Soll ich mich dafür etwa schämen???
Diese psycho-sozialen Folgen sind schwer für mich, weil sie wie ein individuelles Problem erscheinen und neben dem lebensbedrohlichen Charakter der Krebserkrankung wie Kollateralschäden wirken, jedoch ein körperlich gesundes Leben genauso gefährden können. Im akuten Verlauf der Krankheit hat es mich außerdem im Prozess der Emanzipation und natürlich Abnabelung von meinen Eltern von einer Studienanfängerin auf den Stand einer Grundschülerin zurückgeworfen, musste ich doch nun bei jedem Handschlag jemanden um Erlaubnis, bzw. um Betreuung und Hilfe fragen.
Körperlich abgebaut und seelisch hoch empfindlich weinte ich wie ein kleines Kind, wenn meine Eltern nach einem stundenlangen Besuch nach Hause fuhren und mich in dieser Hölle zurückließen. Natürlich war ich erwachsen und konnte kognitiv verstehen, was die Ärzte für und mit mir taten, aber durch den fast vollständigen Kontrollverlust über meinen Alltag konnte ich emotional oft nicht begreifen, womit ich dieses Grauen verdient habe. Plötzlich machte meine Familie wieder den Großteil meiner sozialen Kontakte aus und ich wäre nach der Therapie am liebsten Zuhause wohnen geblieben.
Existenziell zutiefst durch die Krankheit verunsichert, traute ich mir kaum noch zu, mich auf die unbekannte und unsichere Welt der Universität einzulassen. Mich nach der Therapie im Zeitraffer wieder zu einer eigenständigen, unabhängigen jungen Frau zu entwickeln, kostete mich und meine Familie viel Kraft, aber es ist gelungen. Allerdings stellte sich fünf Jahre später, während meines Burnouts eher zufällig heraus, dass ich womöglich in den nächsten 10-20 Jahren an einer Leberzirrhose gestorben wäre, weil ich so viele Blutspenden bekommen habe, dass ich einen hundertfach erhöhten Eisenwert hatte. Also musste ich zwei Jahre lang alle 14 Tage zum Aderlass, um mein zu ferritinlastiges Blut loszuwerden und meine Leber zu befreien.
Diese Folgeerscheinung, die unbedingt in der Nachsorge standardmäßig behandelt werden sollte, hatte niemand im Blick, da vermutlich zu wenig Menschen eine ALL überleben. Also hatte ich wieder sehr viel Glück.
Und nun bin ich Berufsschullehrerin, verbeamtet und gesund. Meine Freundin besuche ich regelmäßig auf dem Friedhof. Ich feiere den Survivor-Day und werde auch weiterhin meine Geschichte erzählen.